Alpinfahrt
Schon am Hauptbahnhof brach an diesem warmen sonnigen Montagmorgen die Euphorie aus, als man die seit langem vermissten, vertrauten Gesichter wiedersah. Unzählige Erinnerungen an schöne und abenteuerliche Erlebnisse verbinden uns innerhalb dieser Gruppe - auch sollten wir dieses Mal nicht enttäuscht werden.
Der Regionalexpress bot uns genügend Raum für einen Gruppentanz, der dafür sorgte, dass wir die restliche Müdigkeit aus unseren Gesichtern lachten. Frisch und wach kamen wir schließlich am frühen Nachmittag im vom Bergpanorama umgebenen Saastal in der Schweiz an. Rein und angenehm kühl umwehte die saubere Landluft das Areal des Campingplatzes auf einer saftig grünen Wiese. Bis zur Dämmerung blieben uns noch einige Stunden, um die unbekannte Umgebung am nahen Fluss zu erkunden. Mit vereinten Kräften wurden die Zelte aufgebaut, in denen wir die kommenden zwei Wochen leben würden. Bei Einbruch der Dunkelheit kochten wir zusammen, ein Ritual, das wir auch an allen anderen Tagen beibehalten sollten. Unter klarem, strahlendem Sternenhimmel ließen wir den ersten Abend mit einer Runde Werwolf ausklingen.
Der neue Tag begann wie gewohnt sehr früh und sportlich. Nachdem wir erstmal 250 Höhenmeter auf einem schmalen Wanderweg zur nächsten Gondel-Station bewältigt hatten, war auch der letzte von uns wach. Während unsere Lungen noch kräftig pumpten, wurde um uns herum immer mehr der gigantischen Gebirgskulisse erkennbar. Wie steinerne Tannenspitzen ragten neben uns weiße Gipfel in den Himmel empor. Als wir dann die Gondel auf 3200 Metern verließen und plötzlich im Hochsommer mit unseren Füßen im Schnee versanken, wurden wir schon am ersten Tag komplett aus der gewohnten Realität gerissen. Wie oft macht man schon eine Schneeballschlacht, bei der man im T- Shirt Angst vor einem Sonnenbrand haben muss? Wieder zurück auf dem Campingplatz erwarteten uns bereits die Langschläfer zum gemeinsamen Frühstück. Der restliche Tag verlief dann relativ entspannt mit einem Spaziergang zu einem abgelegenem Klettergebiet in einer Schlucht direkt am Fluss. Bei einer erfrischenden Brise und mit Blick auf die funkelnden Reflexe der Sonnenstrahlen auf dem Wasser verbrachten wir dort einige schöne Stunden, bis wir entschieden, ein nahegelegenes Beachvolleyball-Feld aufzusuchen und bis ins goldene Abendlicht hinein spielten.
Der Mittwoch stach durch ein etwas spezielleres Training heraus. Erneut ging es mit der Gondel auf den Gletscher, dieses Mal jedoch mit Steigeisen und Eispickel. Wie eine Gruppe von Trollen watschelten wir breitbeinig über das unter uns knarrende Eis. Sperrig und verzerrt ragten türkisblaue Gletscherspalten hinab in den schmalen Abgrund. Mittels selbsterbauter Sicherungen seilten wir uns einige Meter weit in diese ab, um die innere, unberührte Struktur bestaunen zu können. In der Stille waren die Geräusche der Wassertropfen zu vernehmen, die im Dunkel der Spalte auf einem Untergrund aufkamen. Eine vergleichsweise lustige Aktivität war das Stopptraining, bei dem wir rückwärts ein Schneefeld runterrutschten und stoppen lernen sollten - besser als jede Schlittenfahrt! Anschließend durften wir dann noch 1000 Höhenmeter Abstieg im schüttenden Regen eines Berggewitters genießen. Neugierig schnuppernde Murmeltiere beobachteten uns dabei aus ihren kleinen Erdlöchern am Wegesrand. Von oben tauche der größte Regenbogen, den wir je gesehen hatten, den dramatisch grauen Horizont in leuchtend bunte Farben.
Am Donnerstag ging es hoch zu einem Klettersteig auf über 3000 Metern. Wir legten 500 Höhenmeter Aufstieg und 300 Höhenmeter Kletterei zurück, verbunden mit einer über eine tiefe Schlucht reichenden Hängebrücke, bis wir schließlich von der lächelnden Sonne am Gipfel des Jegihorns begrüßt wurden. Höhepunkt war dann aber der kleine, kristallklare Bergsee, der auf dem Rückweg wie bestellt vor uns auftauchte. Komplett verschwitzt sprangen wir in Unterwäsche spontan ins erfrischende, aber eiskalte Gebirgswasser. Wir fühlten uns neu wie geboren und unsere Herzen pochten lebendig und hörbar laut, als wir den See verließen. Die perfekte Voraussetzung für noch eine Runde Volleyball.
Am Freitag fuhren wir unseren Eifer, passend zur nassen Wetterlaune, etwas runter, gönnten uns frische Pfannkuchen, übten unser Spaltentraining am Campingplatz und versuchten uns am Nachmittag in alpinem Minigolf. Die Entspannung kam wie gerufen, da wir am Folgetag große Pläne hatten.
Für Samstag stand wohl das anspruchsvollste Programm mit seinen 1500 Höhenmetern Hüttenaufstieg an. In einzigartigen, kräftigen Farben wurden die grünen Berghänge von
Dutzenden Blumensorten geschmückt. Wie gemalt schlängelten sie sich den Berg hinauf, den wilden Wetterbedingungen standhaft gewachsen. Abgelöst wurde die Blumenwelt nach einigen Stunden durch moosige Felsbrocken und monströse Steinwände. Überraschenderweise gelangten wir schon am frühen Nachmittag an unser Ziel: die Mischabelhütten auf 3300 Metern. Der Ausblick von hier war atemberaubend, das von hohen Berghängen eingekesselte Tal schien fast greifbar. Begrüßt wurden wir dort herzlichst von den „Powerpuff-Girls“ (angelehnt an die Cartoons aus den 90ern), den wohl coolsten Hüttenwirtinnen, die wir je getroffen haben. Mit viel Liebe hatten sie die Hütte mit Zeichnungen an den Wänden und kreativen Playmobil- Tischverzierungen.
Um drei Uhr morgens klingelte wieder der Wecker und beendete die kurze Erholungsphase. Die am Himmel funkelnden Sterne spiegelte sich in unseren Augen, während die schwarze Bergkulisse den Horizont verschluckte. Bei Anbruch des Morgens wurde der Himmel innerhalb von Minuten in helles Rosa getaucht, welches uns den Weg wies. So überquerten wir in Fünfer- Seilschaften vorsichtig den Gletscher und einen schmalen Grat, bis wir unser Ziel auf 3900 Metern erreichten. Kalter Wind wehte uns auf dem Gipfel Ullrichshorn entgegen. Die Sicht erstreckte sich an diesem klaren Morgen hunderte Kilometer weit über Grenzen hinweg. Nach einem schnellen Gruppenfoto folgte schon wieder der Abstieg, der dieses Mal 2100 Höhenmeter umfasste. So kamen wir nur einen Tag später am gleichen Ort an, an dem wir gestartet waren, mit einem Gefühl in den Beinen, als wären wir Tage unterwegs gewesen. Nach einer kurzen Erfrischung im Bach und einem notwendigen Einkauf ging es schließlich zurück zum Campingplatz. Hier sollten einige entspannte Tage folgen mit Mehrseillängen- und Gletschertraining.
Der große Traum einiger Teilnehmer wurde am Donnerstag umgesetzt: der Aufstieg auf den ersten 4000er, dem Weissmies. Durch ein märchenhaftes Gelände mit friedlichen Waldpassagen mit Blaubeeren am Wegesrand und am rauschenden Flussufer entlang, ging es am ersten Tag hinauf zur Almagellerhütte, die wir am Nachmittag auf knapp 2900m erreichten. Der Rest des Tages wurde wie gewohnt mit Kartenspielen und Essen verbracht, wobei wir auch noch die hütteneigene Slack-Line ausprobieren konnten. Nachts um 4.00 Uhr ging es noch ein letztes Mal hinaus in die Dunkelheit, wobei wir dieses Mal nicht die Einzigen mit dieser Idee waren. Dutzende Stirnlampen waren auf den Wegen sichtbar, sogar an den dunklen Hängen der benachbarten Berge. Diese fast unwirkliche Atmosphäre verlieh uns neuen Tatendrang. So rückten wir Schritt für Schritt, Stunde um Stunde näher an den weißen Gipfel. Zur Halbzeit kroch auch die Sonne aus ihrem Wolkenbett hervor und tunkte die eindrucksvolle Umgebung in ein tiefes Orange. Nach einer gefühlt nie endenden Gratkletterei über unzählige Felsbrocken, errangen wir schließlich alle am Vormittag erschöpft die 4000 Meter. Freude gemischt mit Erleichterung spiegelte ich auf allen Gesichtern wider. Ein makelloser Abschluss einer zweiwöchigen einzigartigen Tour. Ein Gefühl von ergreifender Vollkommenheit und Demut machte sich in unseren Herzen breit, Dankbarkeit für die eigene Leistung. Nach einem letzten tiefen Atemzug überquerten wir den Gipfel durch einen steilen Gletscherabstieg, der nochmal die ganze Konzentration forderte. Um 13.00 Uhr dieses bemerkenswerten Tages hatten wir ihn alle unversehrt geschafft - den ersten 4000er!
Enden sollte diese erfolgreiche Fahrt am Samstagmittag - doch lief nichts wie geplant, denn wir fuhren mit der Deutschen Bahn. Der vorgesehene Schienenersatzverkehr fiel mit nur einem Bus für den ganzen Zug sehr bescheiden aus. So verbrachte unsere Gruppe noch weitere 1,5 Stunden bei 30 Grad mit Warten - Zeit, die wir uns als eingeschworenes Team kurzweilig gestalten konnten. Über Baden-Baden ging es nach Raststatt statt nach Stuttgart und erst dann nach Frankfurt, wo wir abends von unseren Familien begrüßt wurden. Damit endeten zwei unbeschreibliche Wochen auch dieses Jahr wieder schneller, als sie begonnen hatten und zurück bleibt nur die Erinnerung, die uns verbindet - und natürlich die massiv verdreckte Wäsche.
Text: Aurelia Proskar, 10.09.2024