Alpinfahrt

Über den Wolken - Alpinfahrt 06.07.- 19.07.2025

Nach dem üblichen Deutsche-Bahn-Abenteuer, einem Zwischenstopp und Spaziergang in München, erreichte unsere zwanzigköpfige Jugendgruppe schließlich das Ziel Saas-Grund im Schweizer Kanton Wallis. Nachdem wir den Campingplatz am Kapellenweg erreicht hatten, galt es, unseren Pavillon und die Zelte aufzubauen, das Volleyballfeld zu markieren und die überdimensionierten Einkäufe zu verstauen. Bei Einbruch der Dämmerung wurde wie jeden Abend gemeinsam gekocht und die Dunkelheit bot zugleich das passende Ambiente für die erste Runde des Spiels Werwolf. Nach einigen Stunden kehrte Ruhe im Camp ein. Die ersten Regetropfen prasselten auf die Plane des Pavillons, dessen Silhouette sich vor der in Nebel gehüllten Bergkulisse in düsterer Ferne abhob. Leise Gespräche waren zu hören und der sanfte Klang einer spielenden Gitarre.

Statt den ersten Ferientag zu Hause zu verschlafen, standen wir nun schon um zehn Uhr am Montagmorgen am Einstieg vom Klettersteig Mittaghorn. Noch nicht akklimatisiert,  kämpften wir uns mit pochenden Herzen und kurzatmigen Lungen den langen felsigen Gradrücken hoch. Mit jedem Schritt und jedem Atemzug schien das weite Tal immer ferner und der Gipfel immer greifbarer. Nach einigen Stunden erreichten wir schließlich erschöpft, aber zufrieden, das Gipfelkreuz auf 3141 Metern. So dünne Luft zu schnappen, war für viele ein erstmaliges Erlebnis. Da Gondelfahrten in Alpenvereinskreisen als überbewertet gelten und die Abfahrtszeiten ohnehin meist nicht ins Konzept passen, genossen wir nochmal einen dreistündigen Abstieg durch die verregnete Landschaft. Ein Höhepunkt war, dass wir auf halbem Weg ein verlassenes Gasthaus fanden, dessen offene Türen zum Erkunden einluden. Wieder im Camp angekommen hatten wir erfolgreich den ersten 10-Stunden-Tag hinter uns gebracht.

Um uns auf die Hochtouren vorzubereiten, verbrachten wir den Dienstag „auf dem Eis“. Dafür fuhren wir, beladen mit Eis-Klettermaterial mit der Gondel von Saas-Fee hoch zur Gletscherstation Längfluh. Viele Teilnehmer hatten hier ihre erste Begegnung mit einem Gletscher und sammelten Erfahrungen auf blankem und unter den Füßen knarrendem Eis. Gemeinsam übten wir Lauftechniken auf den Steigeisen, die Benutzung des Eispickels und die Absicherungsmöglichkeiten durch Eisschrauben. Als amüsanten Abschluss trainierten wir gemeinsam das Abbremsen in steilem Firn. Als Trainingsgelände diente ein kleines Schneefeld, über welches einer nach dem anderen herunterrollte und dabei versuchte, sich in die typische Liegestütz-Position zu stemmen, um ein Abbremsen zu erreichen. - Von außen betrachtet ein amüsantes Spektakel, was jedoch durchaus Leben retten kann.

Der Mittwoch erfreute alle Kletterherzen mit den angebotenen Optionen: Felsklettern am Fluss, Mehrseillängen-Klettern oder der Besuch des Jegihorn-Klettersteigs. Im Kontrast zum entspannten Sportklettern erwies sich der Klettersteig allerdings als ein hoffentlich einmalig bleibendes Erlebnis. Steinschlag-Gefahren, durchhängende, lockere  Drahtseilstellen, wackelnde, verrostete, abgeschabte und herausziehbare Eisenbügel  stellten jegliche Sicherheitsstandards in Frage. - Die Adrenalinschübe beschränkten sich daher nicht nur auf die sechzig Meter lange Hängebrücke oder die kahle, ausgesetzte Steinwand am Ende der Tour. Wir waren erleichtert, als wir am Nachmittag alle unbeschadet das Gipfelkreuz auf 3206 Metern erreichten. Nach einem kritischen, vom Klettersteig schockierten Eintrag ins Gipfelbuch, trafen wir wieder auf unsere „Mehrseillängen-Gruppe“. Und da auch dieses Mal die Gondelzeiten nicht passten, machten wir uns an den 1000 Höhenmeter langen Abstieg begleitet von einem beschaulichen Sonnenuntergang. Kurz vorm Ende des Abstiegs durften wir dann noch die Bekanntschaft mit einem aggressiven Jungbullen machen, der uns den halben Weg wieder hochjagte und für extra Höhenmeter sorgte.

Leicht nervös, mit schwer beladenen Rucksäcken doch spürbar fitter - da zwischenzeitlich akklimatisiert – starteten wir am Freitag unsere Tour am Fuße des Allalinhorns. Ziel waren die 1200 Meter zum Biwakplatz auf Gletscherhöhe. Der Weg führte vier Stunden über blühende Berghänge, durch nach Kiefer duftende Nadelwälder, an Murmeltierbauten vorbei bis hin zu unserem Schlafplatz, einem kleinen auf 2900 Metern gelegenen Gletschersee. Ungewohnt schon um 19:00 Uhr im Bett zu liegen, vertrieben wir uns die Zeit mit Gesprächen, bis Dämmerung und Müdigkeit einsetzten. In allen Blickrichtungen türmen sich in der Ferne gigantische Eissäulen auf, mächtige Wasserfälle schnitten durch den harten Fels, urzeitliche Steinformationen schmückten die kahle Landschaft und dutzende puderweißer Gipfel ragten um uns herum in dem Himmel empor. Unsere Augen konnten den Anblick kaum aufnehmen, bis sie schließlich unter den stumm vorbeiziehenden Wolkenschwaden zufielen. Lange dauerte es nicht, bis wir schon um 3:00 Uhr aus dem frostigen Powernap erlöst wurden. Selbst der ungnädigste Morgenmuffel war sprachlos bei der Aussicht, die sich beim Öffnen der noch verklebten Augen bot. Der nun wolkenlose Himmel bildete einen schwarzen, samtenen Grund, der mit funkelten Sternenlichtern besetzt war und sich ins Unendliche erstreckte. Zusätzlich leuchtete der Mond in so klar und hell, dass die Kulisse der umliegenden Gegend zu erkennen war.

Das blanke Eis, welches von einer dicken Schneeschicht eingehüllt wurde, erschwerte uns den folgenden Aufstieg. Mit müden Beinen kämpften wir uns Schritt für Schritt durch die noch junge Nacht. Die Stirnlampenlichter unserer Seilschaften leuchteten wie den Hang hinauf schwebenden Glühwürmchen. Stunden vergingen, Schneefeld um Schneefeld könnten wir hinter uns lassen. Mit dem Versagen der Stirnlampen begrüßten uns die ersten Sonnenstrahlen, die hinter den umliegenden Gebirgsrücken hervorkamen. Auch dieses Naturspecktakel bescherte uns neue unvergessliche Bilder. Zackige, bizarre  Felsformationen wurden in ein sanftes, rosa-orangenes Licht getaucht. Mit der wärmenden Sonne im Rücken verstrichen die Höhenmeter. Für die letzten Schritte benötigte es alle körperliche Energie und geistige Ambitionen, da einem die Höhe alle Kräfte zu rauben versuchte. Umso ehrfürchtiger waren unsere Blicke, als der letzte Schritt schließlich getan war. Ein 360-Grad-Panoramablick, der sich hunderte Kilometer weit über Gipfel, Täler und ferne Dörfer erstreckte. Die Worte fehlten das Gefühl zu beschreiben – wir waren machtlos und klein wie wir dort standen, sprachlos am höchsten Punkt des Berges über den Wolken.

Der Abstieg, vor dem uns es schon graute, erwies sich dann als sehr ausgefallen und unterhaltsam. Da der Rückweg zum Biwakplatz größtenteils aus steilen, stillgelegten und präparierte Skipisten bestand, machten wir es uns einfach. Im Juli gestalteten wir die Skipiste zur Schnee-Rodelbahn um. Jedoch rutschten wir nicht auf Schlitten, sondern nutzten unseren in Regenkleidung gehüllten Hosenboden. Zwanzig bunte Punkte, die die weißen Schneehänge hinunter schlitterten – ein in Abstieg in Rekordzeit.

Am Sonntag bot sich dann endlich die Gelegenheit, den wilden Spielplatz an der Gondelstation Kreuzboden zu testen, an dem wir schon so oft vorbeigelaufen waren. Wir stürmten also das Luftkissentrampolin und die Seilbahn mit dem Autoreifen und sorgten für lustige Fotos. Mittags verscheuchte uns schließlich der Regen, was aber auch kein Problem darstellte, da wir so unser Gondelticket voll auskosten konnten. Eine einzelne Fahrt hätte sowieso nicht ausgereicht, um alle Reize der Umgebung aufzunehmen.

Für Eisaffine ging es am Montag zum Klettern an Séracs und zum Spaltenselbstrettungstraining. Wer mal einen Tag nicht nass werden wollte, genoss die warme Abendsonne beim Plattenklettern auf dem Kapellenweg.

Der Aufstieg zur Almagellerhütte an der Südseite des Weissmies gestaltet sich wie jedes Jahr aufs Neue traumhaft. Vorbei ging es an farbenfrohen, intensiv duftenden Alpenkräutern, die standhaft den Hang nach oben wachsen. Unter den Füßen knirschten Tannennadeln. Weiter ging es über vermooste Wurzeln, entlang eines lebendig sprudelnden Flusses hinauf zur Steinhütte auf 2894 Metern. Dort angekommen wurden wir mit einem Drei-Gänge-Menü verwöhnt. Nach einigen Kartenspielrunden und Slacklining wurde es schon Zeit, die Schlaflager zu beziehen, um auf den nächsten Morgen vorbereitet zu sein. Verschlafene Gesichter erschienen dann um vier Uhr am Frühstückstisch. Eine halbe Stunde später standen wir schon alle vor der Hütte, um im Dunkel der Nacht den Aufstieg bis zur Weissmies Scharte fortzusetzen.

Während uns der Wind noch um die Ohren pfiff, kämpften sich in der Ferne die Gipfelspitzen durch die dicke Wolkendecke des Morgengrauens. Wie von Casper David Friedrich gemalt, standen wir am Abgrund über dem Nebelmeer, bis wir in diesem komplett ertranken. Der Gipfel des Weissmies mit seinen 4013 Metern machte seinem Namen alle Ehre. Die Sicht beschränkte sich auf fünf Meter. Man hätte auch im Himmel stehen können, weder der Gipfel, noch das Gebirge unter uns war sichtbar. Der folgende Gletscherabstieg zur Weissmieshütte erlöste uns dann zum Glück vom frostigen Wind.  
Nach einem Festmahl auf der Hütte setzten wir die Tour aufs Lagginhorn (4010 Meter) fort. Während des ersten steileren Anstiegs wurden wir von einem Rettungshelikopter begleitet, der die Umgebung über mehrere Minuten zum Beben brachte. Sechs Menschen baumelten nacheinander an der langen Rettungsleinen, ein Schauspiel, welches fast eine Stunde dauert. Am Gipfel angekommen verzogen sich die Wolken bei 80km/h Windgeschwindigkeit schlagartig und offenbarten das in Eis gehüllte Gipfelkreuz. Ein erhebender Moment. Den krönenden Abschluss bescherte uns die letzte Nacht, als wir mit einem Lächeln auf den Lippen gedanklich die letzten zwei Wochen Revue passieren ließen, während sich die Milchstraße in ihrem prachtvollen Glanz über uns erstreckte.

Text: Aurelia Proskar, 15.09.2025

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