Warnung vor giftigen Steilwänden

Bericht von der Skidurchquerung " Auf die Tuxer Tour"

Dass diese Tour anders sein würde als alle anderen Skitouren vorher, war mir schon am ersten Abend klar: Alle Teilnehmenden – Reinhold Becker, Martina Acs-Matthäy, Stevie Gaebe, Ute Lohmeyer, Christoph Pauly, unser Guide Michael Blanke und Uta Harnischfeger – hatten es mit öffentlichen Verkehrsmitteln bis ins stille Schmirntal geschafft, kaum fünf Kilometer Luftlinie vom tosenden Brenner entfernt. Die Klimaschützer des Frankfurter Alpenvereins können sich freuen: Aus dem Rhein-Main-Gebiet sind Alpentouren mit den Öffis ein Klacks!
In der Dämmerung hatte unser Führer Michael dann sogar noch Muße, mich als Neuen in der Runde mit den anderen in den Tiefschnee zu schicken, um zu sehen, ob auch mir eine anspruchsvolle Durchquerung zuzutrauen war. Dann kochten wir mit dem, was die freundliche Wirtin für uns eingekauft hatte.

Auf dem Geiseljoch - und es ist schon 17 Uhr...

Dabei fiel mir auf, wie kooperativ und kommunikativ Michael die Gruppe führte. Eine zweite Beobachtung erfreute mich fast noch mehr: Frauen stellten die Mehrheit in der Gruppe, was ich bei Skitouren eher ungewöhnlich finde.

Am folgenden Tag ging es über Waldwege zur Gammerspitze, die in der Woche davor bei sonnigem Wetter einen Österreicher mit einem Schneebrett in den Tod gerissen und vier weitere Einheimische schwer verletzt hatte. War es ein gutes Omen, dass leichter Schneefall einsetzte und auf dem Grat ein scharfer Wind blies? Wir begnügten uns mit der vorgelagerten Riepenspitze und genossen bei der Abfahrt zum ersten Mal den tiefen Pulverschnee, der sich seit der Unglückswoche etwas gesetzt hatte. Also: nicht hinein in die steilsten, unverspurten Rinnen, Sicherheit vor Schönheit! Der Wind war bei der Abfahrt wie weggeblasen.

Auf Tour

Unser Guide Michael hatte beim örtlichen Bergführer Hubert angefragt: Nein, nicht über die Scheibenspitze, sagte der. Also machten wir uns früh auf zum Bus nach Obern und stiegen mit klappernden Zähnen und Bindungen durch die enge, kalte Schlucht ins Kluppental, mit bangen Blicken nach oben, wo reichlich Schnee lauerte. Als Belohnung gab’s am Ausgang der Schlucht einen herrlich sonnenbeschienenen Sattel, den wir mit schweißtreibenden Spitzkehren eroberten. Wir zogen unsere einsame Bahn bis hinauf zum Naviser Kreuzjöchl, von oben neugierig bestaunt von Dutzenden Skibergsteigern am Gipfel. Sie waren durch das populärere Naviser Tal aufgestiegen – wunderbare Pulverhänge wiesen uns den Weg zur Naviser Hütte, und selbst ein kleiner Gegenanstieg konnte uns nicht schocken.

Auch hier warnte der Hüttenwirt vor den giftigen Steilwänden der Scheibenspitze, die verführerisch in der Abendsonne glänzten. Wir blieben deshalb am nächsten Tag den weiten Nordhängen unterhalb des Kreuzjöchl treu. Der Pulverschnee verzauberte und versöhnte uns. Vier Unersättliche mussten noch ein drittes Mal hoch.

Am Abend dann der Schock auf der sonnigen Hüttenterrasse: Die gut sichtbare Nordflanke der Scheibenspitze war, ausgelöst durch Tourenskifahrer, auf der ganzen Breite abgerissen. Unten im Wald wurde ein unbeteiligter Tourengeher von den Schneemassen verschüttet. Drei Tage später mussten wir in der Tiroler Landeszeitung lesen, dass er im Krankenhaus gestorben war.

Die sanften, sonnenbeschienenen Hänge beim Aufstieg zum Geier, mit 2.857 m der Höhepunkt unserer Durchquerung, beruhigten am nächsten Tag die Nerven. Selbst die ausgesetzte Schlüsselstelle kurz vor dem Gipfel meisterte die Gruppe im Expresstempo. Bei der steilen Abfahrt ins nächste Tal überraschte ein windverpresster Schnee und es galt, mit langen Querfahrten den Abstand zu den steilen Nordhängen zu wahren. Ein frischer Lawinenkegel schärfte unsere Sinne für dieses alpine und damit nie risikofreie Abenteuer. Alle Gruppenmitglieder waren froh, als die Lizumer Hütte in Sicht kam.

Am nächsten Tag riss unserer Gruppe die Glückssträhne. Bei Schneefall und null Sicht stocherten wir zur eigentlich harmlosen Torspitze. Entlang der GPS-Route wurde abwechselnd gespurt. Der Autor sauste unvermittelt in einen 2,50 Meter tiefen Graben, den er im weißen Nichts übersehen hatte. Wahrscheinlich wäre es vernünftiger gewesen, hier umzukehren. Aber wir alle wollten uns beweisen, dass wir keine Schönwetterfahrer waren. Wir stocherten weiter, zuerst auf die Torspitze, dann viele Stunden im Nebel weiter über die Valruckalm zum Geiseljoch: scheinbar endlose Schneefelder. Kleine Abfahrten wurden bei diesen Verhältnissen zum großen Abenteuer. Nur mit Kompass und Karte, so wie früher, hätten wir es nie wagen können. Doch dank Orientierung mit GPS und flexibler Tourenplanung mittels Apps erweiterte sich unser Handlungsspielraum.

Auf dem Naviser Kreuzjöchl

Das Ganze kostete dennoch Zeit und Kraft. Waren wir noch auf der digitalen Spur oder einen Meter weiter links nahe einer Felswand, die uns abstürzen lassen würde? Kurz vor Anbruch der Dunkelheit schafften wir sieben es auf die Weidener Hütte, wo ein rüder Hüttenwirt uns erschöpfte Tourengänger abfertigte. „Erst Kasse, dann Kissen“, lautete hier das wenig gastliche Motto, nachdem die Corona-App kontrolliert worden war. Wenigstens war die Suppe heiß, wenn schon das vegetarische Essen jede Fantasie vermissen ließ. Wir blieben trotzdem zwei Nächte, weil wir den Ruhetag mit einer sanften Neuschneeabfahrt gut gebrauchen konnten. Unser Bedarf nach Abenteuern war so nachhaltig gestillt, dass wir angesichts eines angekündigten Orkans zu Tale cruisten und uns von einem Taxi ins Zillertal fahren ließen. Dort empfingen uns ein Vier-Sterne-Hotel mit großzügiger Saunalandschaft und österreich-ungarischer Gastfreundschaft und (wieder) wunderbarer Sonnenschein für eine letzte kleine Skitour vom Ort aus.

Wir fanden bei der Abschlussbesprechung, dass wir uns beides redlich verdient hatten.

Text: Christoph Pauly
Bilder: Stevie, Christoph, Ute

Die Gruppe

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