Aus Frankfurt in die Ötztaler Alpen
Die Gründung
Trotz seiner Alpenferne hat Frankfurt am Main im Deutschen Alpenverein von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt.
Als sich im Mai 1869 der Alpenverein in München und am 3. September 1869 auch die Sektion Frankfurt am Main gründen, kommt darin ein neues Selbstverständnis von Bürgerinnen und Bürgern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck: Sie setzen sich eigene Ziele und wollen diese verstärkt durch die Organisation in Vereinen umsetzen.
Die Frankfurter Gründer finden sich am 3. September im Hörsaal des Frankfurter Senckenbergischen Bibliotheksgebäudes zusammen: Elf honorige Vertreter des wohlhabenden städtischen Bildungsbürgertums, darunter Naturwissenschaftler, Ärzte, Juristen und der spätere Bürgermeister der Stadt, Adolph Varrentrapp. Erster Vorsitzender wird Prof. Dr. Theodor Petersen und bleibt das bis zu seinem Tod 1918. Beruflich leitet der angesehene Chemiker jahrelang den Frankfurter Physikalischen Verein und initiiert die Gründung der Frankfurter Chemischen Gesellschaft. Als begeisterter Bergsteiger meistert er ein Dutzend Erstbesteigungen, nach ihm ist die etwa 3500 Meter hohe Petersenspitze in den Ötztaler Alpen benannt.
Die Frankfurter Alpinisten verschreiben sich ehrgeizigen Vorhaben: „Durchforschung der Alpen, erleichterte Bereisung derselben, Herausgabe alpiner Karten und Schriften“ setzen sie sich als Ziele, und sie werden sofort aktiv. Schon 1873 wird das Gepatschhaus eröffnet, die erste Hütte des DAV in Österreich überhaupt und finanziert vor allem durch Spenden aus dem Rhein-Main-Gebiet. Ein Jahr später folgt das Taschachhaus, 1888 die hochalpine Rauhekopfhütte, 1906 die Verpeilhütte. Immer wieder unterstützen die Frankfurter auch die Menschen im Kaunertal und Pitztal, etwa bei Unglücken durch Überschwemmungen oder Murenabgänge. So sollen im Jahr 1894 allein 20.000 Mark dafür verwandt worden sein.
Auch 1874 spielt Frankfurt eine wichtige Rolle, als sich der DAV und der Österreichische Alpenverein zum „Deutschen und Österreichischen Alpenverein“ zusammen schließen. Theodor Petersen wird der erste „Central-Präsident“ und Frankfurt am Main Sitz des „Central-Ausschusses“.
Die Frauen
Der Alpinismus der ersten Jahrzehnte ist fest in Männerhand – trotzdem gehören der Sektion Frankfurt am Main schon sehr früh einige Bergsteigerinnen an, die damals zu den weltweit besten gehören.
Eine der Allerersten ist Anna Voigt, Nichte des preußischen Politikers Robert Freiherr Lucius von Ballhausen: Schon 1876 tritt die gebürtige Erfurterin in die Sektion ein. Noch im gleichen Jahr besteigt sie die beiden Spitzen des Piz Rosegg, den Ortler, die Hintere Schöntaufspitze und die Finailspitze. 1877 macht sie Furore, indem sie als erste deutsche Frau das Matterhorn bewältigt. Es folgen, ebenfalls 1877, die 4634 Meter hohe Dufourspitze, der Piz Bernina und das Silvrettahorn. Angesichts solcher Spitzenleistungen schwärmt die Berliner Damen-Zeitung „Bazar“ 1878 in einem Artikel über bergsteigende Frauen: „So kann denn nicht geleugnet werden, dass Fräulein Voigt unter den Bergfexen ersten Ranges zählt und ihr als Dame die Palme umso eher zu reichen ist, als sie bei ihren tollkühnen Unternehmungen nicht eitler Regung, sondern – wie sie selbst sagt – unwiderstehlichem inneren Herzensdrange folgt.“
So stolz sind die Frankfurter auf Anna Voigts Leistungen, dass ihr 1890 als einziger Frau ein Ehrendiplom verliehen wird – obwohl zur gleichen Zeit in den Sektionsgremien noch diskutiert wird, ob Frauen überhaupt zu geselligen Abenden zugelassen werden sollen.
Eine weitere herausragende Frankfurter Alpinistin ist Eleonore Noll-Hasenclever. Sie gilt zu ihrer Zeit ebenfalls als eine der weltbesten Bergsteigerinnen, zumal sie viele Jahre lang ohne Führer unterwegs ist, ja sogar selbst Führungen durchführt. Der Sektion tritt sie 1902 bei und hält schon vor dem ersten Weltkrieg Vorträge, was in dem männerdominierten Verein damals eine kleine Sensation gewesen sein dürfte. Vor allem in den Schweizer Westalpen macht sie dutzende aufsehenerregende Touren, besteigt unter anderem die Aiguille Verte und überschreitet die Grandes Jorasses. Auch ihren späteren Ehemann Johannes Noll lernt sie 1911 während einer Bergtour kennen – als sie ihn auf die Aiguille des Grands Charmoz führt. 1914 schafft sie endlich, als ihren 45. Viertausender, das Weißhorn, diesen, wie sie selbst sagt, „neben dem Matterhorn edelsten Berg“.
Bei der Erkundung des Weißhorns entgeht sie nur knapp einer Lawine und schildert das Erlebte nachher eindrücklich: „Ein wahres Trommelfeuer von Schneeblöcken, dann schleuderte mich die Kraft der Lawine mitsamt dem Pickel eine Strecke fort, nahm mich galant auf ihren Rücken, wühlte mich zu unterst und warf mich wieder nach oben; ich suchte mit allen Kräften mich schwimmend auf der Oberfläche des Schneestroms zu halten, was mir auch gelang.“ 1925 aber wird ihr in den Walliser Alpen eine Lawine zum Verhängnis: Sie stirbt in 3800 Meter Höhe am Bishorn in den Schneemassen. Ihr Grab befindet sich auf dem Bergsteigerfriedhof in Zermatt.
Zwischenkriegszeit
1918 stirbt der charismatische Sektionsvorsitzende Theodor Petersen. Er wird auf dem Frankfurter Hauptfriedhof bestattet, wo noch heute sein Grabstein zu sehen ist. Finanziert hat das Grabmal das Ehepaar Noll-Hasenclever.
Die Sektion Frankfurt am Main hat unter dem Ersten Weltkrieg sehr gelitten, nach Kriegsende hat sie nur noch 840 Mitglieder. Unter dem neuen Vorsitzenden Max Moritz Wirth beginnt der Wiederaufbau, der Verein wächst.
Bergsport und vor allem Bergtourismus erleben in den 20er Jahren einen regelrechten Boom, die Hütten sind zunehmend überfüllt. Das spiegelt sich auch in der Sektion, die auf 1800 Mitglieder wächst. Ab 1926 gibt es ein jährliches Vereinsfest im Zoo, das zu einem Höhepunkt des gesellschaftlichen Lebens der Stadt wird und teilweise bis zu 3000 Gäste anlockt. Der harte Kern der Alpinisten in der Sektion ist zwar klein, doch zu den regelmäßigen Vorträgen kommen bis zu 400 Mitglieder, an Wanderungen in der Frankfurter Umgebung nehmen bis zu 200 teil. 1930 gründet die Sektion eine Skiabteilung, denn Wintersport wird immer beliebter.
Nationalismus und NS-Zeit
Politisch entwickelt sich der DAV nach dem Ersten Weltkrieg alles andere als positiv. Der Verband radikalisiert sich und richtet sich zunehmend deutschvölkisch aus, jüdische Bergsteigerinnen und Bergsteiger werden ausgegrenzt. Ab 1933 arbeitet der DAV eng mit dem NS-Regime zusammen. Die Sektion Frankfurt am Main widersetzt sich lange den antisemitischen Tendenzen des Gesamtverbands. So stimmt sie 1924 als eine von ganz wenigen Sektionen vergeblich gegen den Ausschluss der Sektion Donauland wegen deren zahlreichen jüdischen Mitgliedern. Anders als viele andere Sektionen hat Frankfurt bis 1933 auch keinen Arierparagraphen. Vielmehr gehört mit Dr. med. Arthur Kutz bis 1932 ein jüdischer Arzt der Sektionsführung an.
Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme folgt allerdings auch die Sektionsführung der Marschrichtung des Gesamtvereins: Man will die Existenz des Vereins erhalten. Mitte 1933 wird der Arierparagraph eingeführt, zahlreiche jüdische Mitglieder müssen die Sektion verlassen. Im September 1933 übernimmt Dr. Ernst Wildberger, NSDAP- und SA-Mitglied, den Posten des „Sektionsführers“. Im März 1934 wird Rudolf Seng in den Posten gewählt, ebenfalls NSDAP-Mitglied. Im Nachrichtenblatt der Sektion tauchen nun wiederholt Artikel im NS-Jargon auf. Bemerkenswert ist aber eine Personalie: Dr. Kurt Blaum, 1933 von den Nazis wegen seiner antinational-sozialistischen Einstellung vom Amt des Oberbürgermeisters von Hanau abgesetzt, wird 1935 zum Sektionsreferenten für das traditionell sehr wichtige Vortragswesen berufen. Er behält das Amt bis Kriegsende. 1945 wird er von der US-Besatzungsmacht als Frankfurter OB eingesetzt.
Die Sektion arbeitet dieses dunkle Kapitel ihrer Geschichte inzwischen gründlich auf. Die bisherigen Recherche-Ergebnisse der Projektgruppe "Spurensuche Nationalsozialismus" finden sich auf der gleichnamigen Website "Spurensuche Nationalsozialismus". Die Online-Dokumentation wird laufend ergänzt und ausgebaut.
Wiederaufbau
Nach Kriegsende wird es Jahrzehnte dauern, bis der DAV sich diesem dunklen Kapitel seiner Geschichte stellt. Zunächst geht es, wie in weiten Teilen der Gesellschaft, um Wiederaufbau. Die Sektion Frankfurt am Main bekommt 1946 die Wiederzulassung durch die US-Militärbehörde, Wirth wird wieder Vorsitzender. Etwa 800 Sektionsangehörige sind im Krieg gefallen, doch 1950 ist die Mitgliederzahl schon wieder auf 2300 gestiegen. 1956 bekommt die Sektion ihre damals fünf Hütten in Österreich von der dortigen Treuhandverwaltung zurück.
In dieser Zeit gelingen den Frankfurtern einige bergsteigerische Erfolge, so die Winterdurchsteigung der Watzmann-Ostwand 1949 und die Pamir-Expedition 1953.
Für internationales Aufsehen sorgt vor allem die Frankfurter Himalayaexpedition von 1955, die der Bergsteiger Reinhard Sander leitet: die Erstbesteigung des über 7000 Meter hohen Spantik (auch Golden Peak genannt, 7027 m) im Karakorum durch Edi Reinhardt, Joachim Tietze und Reiner Diepen. Die Expedition wird ein großer Erfolg – vor allem, weil der Arzt Walter Brendel vom Kerckhoff-Institut aus Bad Nauheim und der österreichische Gletscherkundler Norbert Untersteiner in der noch unerforschten Gegend wichtige Daten erheben können. Brendel sammelt Erkenntnisse über das Verhalten des menschlichen Körpers in großen Höhen. Untersteiner – Pionier der Klimaforschung – untersucht den Gletscher, der bereits im Abschmelzen begriffen ist. Nach ihrer Rückkehr werden die Bergsteiger im September im Römer empfangen.
Frankfurts Oberbürgermeister Walter Kolb hat dem Team um Sander zwei Tage vor der Abreise die Fahne der Stadt Frankfurt überreicht, die „über Zeltlagern der Expedition wehen und (...) für den Unternehmungsgeist der Frankfurter Bergsteiger zeugen“ soll. Heute befindet sich die Fahne im Institut für Stadtgeschichte - denn auf dem Gipfel des Spantik war zu stürmisches Wetter, um sie hissen zu können.
Engagement für Naturschutz
Der Frankfurter Reinhard Sander wird den DAV in den folgenden Jahrzehnten auch bundesweit nachhaltig prägen: Er wertet vor allem den Naturschutz deutlich auf. 1969 wird Sander zum Vorsitzenden der Sektion Frankfurt am Main gewählt, 1974 bis 1980 zum ersten Vorsitzenden des Gesamtverbandes. Prof. Sander, der unter anderem Mitgründer des ersten deutschen Naturparks Bergstraße/Odenwald, Vizepräsident des Deutschen Naturschutzrings und Vorsitzender des BUND Hessen ist, initiiert im Bundes-DAV das Grundsatzprogramm zum Schutz des Alpenraumes und führt das Amt des Sektionsreferenten für Naturschutz ein. Seit den 70ern setzt sich der Verband wiederholt gegen Projekte ein, die den Naturraum Alpen gefährden, seien es Seilbahnbauten, neue Skigebiete oder auch Stauseen.
Trendsport Klettern
Ganz im Zeichen des boomenden Klettersports stehen auch in Frankfurt die 2000er Jahre. 2012 hat die Sektion Frankfurt am Main 6000 Mitglieder. 2013 eröffnet sie nach jahrelangen Vorarbeiten ein hochmodernes Kletterzentrum in Preungesheim, dem Vereinssitz – schon ein Jahr später ist die Mitgliederzahl auf 8000 hochgeschnellt. 2017 wird das zehntausendste Mitglied begrüßt, die Sektion ist damit der drittgrößte Verein der Mainmetropole. Sie bietet viel Jugendarbeit, ein breites Angebot für Familien, Wanderer und Bergsteiger, für Menschen mit Handicap, Skifahrer und Mountainbiker – aus dem „bildungsbürgerlichen Bergsteigerverein“ der ersten Jahre ist eine moderne Sport- und Alpinismusvereinigung geworden. In ihren vier Hütten in Tirol (Gepatschhaus, Verpeilhütte, Riffelseehütte und die nur von Ehrenamtlichen geführte Rauhekopfhütte) bewältigt sie fast 10.000 Übernachtungen jährlich.
Heute steht Frankfurt am Main als alpenferne Sektion vor der großen Zukunftsaufgabe, den Spagat zwischen dem klassischen Bergsteigen und dem Klettern an künstlichen Anlagen (auch „Plastikklettern“ genannt) zu meistern. Der Verein blickt zuversichtlich nach vorn und wird auch diese Herausforderung meistern – und die Sektion fit machen für die nächsten 150 Jahre.
Ursula Rüssmann und Martin Frey